S. Lowenstein: The Population History of German Jewry

Cover
Titel
The Population History of German Jewry 1815–1939. Based on the Collections and Preliminary Research of Prof. Usiel Oscar Schmelz


Autor(en)
Lowenstein, Steven M.
Herausgeber
Myers, David N.; Berenbaum, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
764 S.
Preis
$ 169.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael K. Schulz, Historisches Institut, Universität Potsdam

Das vor mehreren Jahrzehnten begonnene Großprojekt von Usiel Oscar Schmelz (1918–1995) zur neuzeitlichen Bevölkerungsgeschichte der deutschen Juden ist endlich abgeschlossen. Der Umfang war für einen Einzelwissenschaftler beachtlich und die Entstehungsgeschichte ungewöhnlich. Als Professor am Institute for Contemporary Jewry an der Hebräischen Universität in Jerusalem und einer der bedeutendsten Demografen Israels stellte Schmelz bereits in den 1980er-Jahren vorläufige Ergebnisse des Projekts und den Plan für dessen Fortsetzung vor. Bis zu seinem Tod schaffte er es allerdings nur, eine detaillierte Studie zur jüdischen Demografie in Hessen zu veröffentlichen.1 Mit der Auswertung des Schmelzschen Nachlasses und der Fortführung des Projekts wurde 2003 Steven Mark Lowenstein (1945–2020) beauftragt, langjähriger Geschichtsprofessor an der University of Judaism in Los Angeles. Als Experte der jüdischen Sozialgeschichte wusste Lowenstein die ihm zur Verfügung stehenden Daten zu nutzen und passte dabei den eher klassisch demografischen Ansatz von Schmelz einer soziokulturellen Fragestellung an (S. 2). Auch ihm war es allerdings nicht vergönnt, die Früchte seiner Arbeit in publizierter Form zu erleben. Wie Sergio DellaPergola im Vorwort feststellt, ist dieser Band somit in zweierlei Hinsicht posthum (S. VII).

Die Monografie besteht aus drei Teilen, die einen Überblick über die untersuchte Materie aus chronologischer, regionaler und thematischer Perspektive geben. Der umfangreichste thematische Teil umfasst vor allem die Fragen des natürlichen Wachstums und der sich ändernden Altersstruktur, der Migration sowie der Urbanisierung und der jüdischen Niederlassungsmuster in den deutschen Städten. Zudem beinhaltet das Buch auf 25 Seiten abgedruckte farbige Karten sowie ein Personen-, Orts- und Sachregister.

Anders als von Schmelz geplant und in seiner oben erwähnten hessischen Monografie exemplifiziert, erweiterte Lowenstein den chronologischen Umfang des Projekts auf die Jahre 1815 bis 1939. Für den Ausgangspunkt einige Jahrzehnte früher als der israelische Demograf es vorgehabt hatte, sprachen für Lowenstein sowohl narrative wie auch Werkstattfaktoren. Zum einen ermöglicht diese Vorgehensweise, die jüdische sowie die allgemeine Bevölkerung mehrheitlich noch in ihren vormodernen Strukturen zu identifizieren und die ersten Prozesse, die für die moderne deutsch-jüdische Bevölkerungsgeschichte kennzeichnend waren, in ihrem Anfangsstadium zu erfassen. Zum anderen wird dadurch die Möglichkeit genutzt, die für gesamtdeutsche Vergleiche zur Verfügung stehenden statistischen Quellen auszuschöpfen. Der Endpunkt der Untersuchung im Jahr 1939 ermöglicht es, die aus der nationalsozialistischen Politik resultierende massive Auswanderungswelle auf die Struktur der jüdischen Bevölkerung zu beleuchten, noch bevor der Zweite Weltkrieg die deutsch-jüdische Geschichte zu einem gewaltsamen, zumindest vorläufigen Endpunkt brachte.

Was die wichtigsten demografischen Entwicklungen der modernen deutsch-jüdischen Geschichte waren und wie sie auf verschiedenen Ebenen – Reich, Staaten, Provinzen, Städte und Dörfer – zum Ausdruck kamen, zeigt Steven M. Lowenstein anhand von knapp 400 Tabellen und Grafiken auf überzeugende Weise in dem Stil, der aus seinen früheren sozialhistorischen Publikationen bekannt ist. Dabei fragt er stets danach, inwieweit bestimmte Prozesse durch regionale Besonderheiten, politische, kulturelle oder andere Faktoren geprägt werden konnten. Eingebettet in die historische Erzählung gibt Lowenstein stets auch wertvolle Werkstatthinweise zum ausgewerteten statistischen Material. Er scheut nicht, eigene Aussagen zu hinterfragen bzw. zu relativieren, wenn ihm die jeweilige Quellenbasis als nicht hinreichend erscheint. Dank der oben erwähnten Dreiteilung des Buchs ist es möglich, einige Abschnitte „isoliert“ als eine Art Handbuch zu lesen, zum Beispiel bezüglich des natürlichen Wachstums, der Altersstruktur oder mit Fokus auf eine konkrete Region. Dennoch sollten einige im Buch besprochene Materien – wie Migration oder Urbanisierung – an mehreren Stellen konsultiert werden, um die Prozesse in ihrer Tiefe zu verstehen.

Während die narrative und analytische Seite dieser Studie genauso wie der Datenreichtum zu loben sind, lässt die redaktionelle und technische Ausführung einiges zu wünschen übrig. Natürlich standen die Herausgeber und der Verlag vor einer schwierigen Aufgabe, das Buch ohne den Autor zu vervollständigen. Dennoch sind die Vielzahl der Unvollkommenheiten und formellen Fehler dieser als ein Standardwerk konzipierten Studie unangemessen. Unvollständig sind etwa das Quellen- und Literaturverzeichnis sowie das Register. Im Letzteren fehlen insbesondere kleinere, in der Untersuchung behandelte Ortschaften, wie beispielsweise Alsfeld, Bingen, Hildburghausen, Mühlen, Oppenheim, Ottensoos, Reichelheim, Römhild, Schnaittach (S. 441, 569, 631, 633, 651), um ein paar Beispiele zu nennen. Zudem wurden zwischen einer ursprünglichen und gedruckten Version des Texts allem Anschein nach Fußnoten neunummeriert, die Querverweise aber nicht aktualisiert. Somit lassen sich die Verweise nicht mehr nachverfolgen (zum Beispiel auf S. 371 [Fn. 39], 542, 682 [Fn. 6]).

Des Weiteren ist eine Vielzahl an Formatierungsfehlern in den ohnehin nicht einheitlich erstellten Tabellen zu finden; so etwa, wenn ein Zwischenergebnis („total“) auf eine Weise formatiert worden ist, als ob es die Summe aller Angaben wäre (S. 216, 465, 609f., 617f.). Eine sich wiederholende Ungereimtheit ist der Verweis auf Formatierungsmaßnahmen in den Tabellen, die nicht vorhanden sind, wie etwa Fettdruck (S. 51, 126f., 220–222, 314), kleinere Schriftart (S. 17), Rotmarkierung (S. 478) oder Kursiv (S. 647–649). Darüber hinaus wird gelegentlich nicht erklärt, was bestimmte Verweise bedeuten, etwa Asterisk (S. 126f., 292, 392, 411, 445) oder schließende eckige Klammern (S. 299–305).

Nicht zuletzt sind auch die wenigen Grafiken wegen des Layouts an sich nicht besonders erhellend, dazu leider noch teilweise falsch beschriftet. Die Grafiken 5.2 und 5.3 (S. 192, 205) erklären angeblich – so die Anmerkung der Herausgeber – Unterschiede zwischen der allgemeinen und der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Alterskohorten. Eine Analyse weiterer Daten in diesem Band lässt allerdings feststellen, dass es sich hier um eine für solche Alterspyramiden typische Trennung von Männern und Frauen handelt; in diesem Fall sind beide Gruppen jüdisch. Zudem sind die Minus-Angaben in diesen Grafiken falsch und in der Grafik 5.3 werden einige Alterskohorten irrtümlicherweise mehrmals abgedruckt.

Diese Unvollkommenheiten erfordern zwar vom Lesenden eine erhöhte Konzentration, sie verringern aber nicht den Wert der Monografie. In welchem Ausmaß diese Studie künftig rezipiert wird, muss sich noch zeigen. Schon heute scheint es aber unvorstellbar, sozialhistorische Aspekte moderner deutsch-jüdischer Geschichte zu besprechen, ohne diesen Band studiert zu haben. Ein wichtiger Hinweis und eine Art Forschungsdesiderat verbirgt sich in der Aussage Lowensteins in der Zusammenfassung: „Additional information is still hidden in local records of statistics that require minute dissection through the use of family reconstruction methods“ (S. 675). Die Forschung demografischer Entwicklungen deutscher Juden in der Moderne ist also eindeutig noch nicht abgeschlossen. Mit Lowensteins Monografie gewinnt sie einen festen Bezugspunkt, ein Fundament, auf das sie aufbauen kann.

Anmerkung:
1 Uziel Oscar Schmelz, Die jüdische Bevölkerung Hessens von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933, Tübingen 1996.

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